Unter den Bischöfen von Chur ( bis 1816)
Spiss stand in Abhängigkeit von der Mutterpfarre Nauders und den Bischöfen von Chur. Dekanatssitz war Mals im Vinschgau. Lange Zeit hatte die kleine Gemeinde kein eigenes Gotteshaus. Für eine Messe musste man einen dreieinhalbstündigen Fußmarsch nach Nauders in Kauf nehmen.
Die Toten mussten nicht selten unter großen Mühen und Gefahren zum Friedhof der Stammkirche gebracht werden. Im Winter drohte oft Lebensgefahr durch Lawinen.
1607 beschlossen die Spisser ein eigenes Gotteshaus, eine kleine Kapelle zu errichten. Den Spissern wurde auferlegt, dem Pfarrer wenigstens eine Suppe und ein paar Eier, jedoch keinen Wein zu reichen. Falls sie dieser Verpflichtung nicht nachkommen sollten, bräuchte auch der Pfarrer nicht zu kommen. Inzwischen warf die Reformation ihre Schatten in dieses sonst so ruhige und abgeschiedene Tal.
Schon in der Mitte des 16. Jahrhunderts setzte im Unterengadin die Revolution im Glauben ein, in der Nachbargemeinde Samnaun bildete sich eine evangelische Kirchengemeinde. Auch einige Spisser schienen der neuen religiösen Bewegung nicht ganz abgeneigt und so berichtete man dem Bischof von Chur über das nachlässige kirchliche Mittun der Christen.
Während der Zeit des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) geriet auch Spiss in den Strudel dieses grausamen Krieges. Das Unabhängigkeitsstreben der unter der habsburgischen Herrschaft stehenden Graubündner und Engadiner spitzte sich durch den Einfluss des reformierten Predigers Kalvin weiters zu. Sowohl auf katholischer als auch auf protestantischer Seite kam es zu schrecklichen Racheaktionen.
1621 drang ein kaiserlicher Oberst vom Münstertal ins Unterengadin ein. Nach einer Niederlage kam das Unterengadin wieder unter österreichische Herrschaft. Ein Jahr später folgte der Rachefeldzug der Engadiner, der Spiss schweren Schaden zufügte. Die Engadiner zerstörten das Gotteshaus, plünderten das Dorf, sodass nur vier Häuser unversehrt blieben. Eine Talseite musste an die Gegenpartei abgetreten werden, der Schergenbach wurde Grenzfluss zwischen den habsburgischen und eidgenössischen Landen.
Nach dieser unruhigen Zeit ging man daran, an Stelle der zerstörten Kapelle eine neue Kirche zu bauen. Am 17. September 1638 wurde die neue Kirche zum heiligen Johannes, dem Täufer, die Glocke und der Friedhof von Bischof Johannes VI . eingeweiht. Die Kirche und deren Ausstattung waren schlicht und auf das Notwendigste beschränkt.
Um eine bessere seelsorgliche Betreuung zu genießen, wurde 1727 ein Widum erbaut.
In einem Vertrag verpflichtete sich der zugeteilte Priester, neben den üblichen Seelsorgsdiensten zweimal im Monat eine Predigt und Kinderlehre zu halten und für die Gemeinde im Laufe eines Jahres 18 heilige Messen zu feiern. Dafür musste die Gemeinde dem Priester das Widum samt Garten, Stadel und Stallung, einen Acker, ein Stück Bergwiese und eine Heimwiese überlassen. Jede Familie musste weiters eineinhalb Klafter gehacktes Scheiterholz zum Widum führen und dem Priester als Abgeltung für den Messwein ein Pfund rohes Schmalz oder Butter ins Pfarrhaus bringen. Die Gemeinde verpflichtete sich zudem noch, die kirchlichen Güter unentgeltlich zu bearbeiten und das Vieh aus dem Pfarrstall umsonst weiden zu lassen.
1777 meldete der Pfarrer von Nauders dem fürstbischöflichen Ordinariat von Chur, dass die Kapelle von Spiss in einem solch baufälligen Zustand sei, dass man in ganz Tirol kein armseligeres Kirchlein mehr finden könne. Für einen Neubau fanden sich alsbald großzügige Wohltäter und so wurde die neue Kirche bereits 1778 eingeweiht.
Im Jahre 1789 wurde dann die provisorisch besetzte Kaplanei von Spiss in eine ständige, dauerhafte Einrichtung, eine sogenannte Expositur umgewandelt. Von da an bekam die Expositur einen jährlichen finanziellen Beitrag aus dem Religionsfonds.
Unter den Bischöfen von Brixen (1816- 1921)
Die Spisseggkapelle Eine halbe Stunde von der Spisser Kirche entfernt steht auf einer kleinen Anhöhe am Schalklbach die Spisseggkapelle. Die kleine barocke Kapelle wurde wahrscheinlich aus dem Grund, dass während des napoleonischen Krieges Spiss verschont geblieben und niemand aus dem Dorf ums Leben gekommen war, zu Ehren der schmerzhaften Muttergottes gebaut.
Das Bild der schmerzhaften Muttergottes in der Mühlenkapelle von Nauders dürfte als Vorbild für das Gnadenbild der Spissegger Kapelle gedient haben.
An der rechten Seite der Außenwand steht ein volkstümliches Kruzifix, von einem Holzrahmen eingefasst.
An der linken Seite erinnert ein Marterl an einen Soldaten, der 1915 bei einem Patrouillengang in den Schergenbach gestürzt und ertrunken ist. Bis zum Jahre 1912 führte der einzige Saumpfad für das Tal an dieser Kapelle vorbei.
So manche Schmuggler, Wilderer, Finanzer, Spisser und Samnauner in Nöten werden die schmerzhafte Mutter von Spissegg um ihren Beistand und Trost angefleht haben. Sicher werden auch die „Schwabenkinder“, die sich alljährlich im Frühjahr zum Hüten auf den Weg in das deutsche Gebiet am Bodensee aufmachten, den Schutz der Muttergottes von Spissegg gesucht haben.
Es war nicht Abenteuer- oder Reiselust, sondern die Not der Zeit, welche die Kinder und Jugendlichen zum Broterwerb in die Ferne führte.
In den Jahren 1958 und 1975 wurde die Kapelle renoviert.
Nach dem napoleonischen Krieg kam es zur politischen und kirchlichen Neuordnung Europas. Am 3. August 1816 wurden die zu Chur zählenden Pfarren des oberen Vinschgaus und des südlichen Paznauns (Galtür, Ischgl) an das Bistum Brixen abgetreten. Damit endete die jahrhundertelange Kirchenzugehörigkeit zum Bistum Chur. Während des Wechsels übte der aus Spiss stammende Priester Gabriel Mangott die Seelsorge in seinem Heimatort aus. Anschließend wirkte Pfarrer Josef Martin Wolf in Spiss, seine achtzehnjährige Seelsorgetätigkeit war für den Ort ein großer Segen.
Er unterstützte den Bau einer neuen Kirche in Gstalda nach Kräften. In der Kirche von Spiss ließ er neue Altäre aufstellen.Im Jahre 1838 wurden die Kirchen von Spiss und dem Weiler Gstalda vom Brixner Weihbischof eingeweiht.In dem Ortsteil Runggal wurde zu Ehren des Hl. Zeno und des Hl. Benedikt eine Kapelle erbaut, die allerdings später wieder verfiel.
1905 beschloss der Gemeinderat, einen neuen Kirchturm bauen zu lassen. Der alte Turm war durch Mauerfraß schadhaft, das Dach nicht mehr dicht und drei neue von Wohltätern gespendete Kirchenglocken fanden keinen Platz im alten Turm.
Unter den apostolischen Administratoren und Bischöfen von Innsbruck (ab 1921)
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Pfarre Nauders mit Spiss dem Dekanat Prutz zugewiesen. Von 1918-1921 war Innsbruck eine Filiale des Brixner Ordinariats. Da die Abtrennung Südtirols zur neuen geschichtlichen Realität geworden war, wurde am 9. April 1921 die Apostolische Administratur
Innsbruck geschaffen, die dann am 24. September 1964 zur eigenständigen Diözese erhoben wurde.
Bei einer Visitation des neuen Weihbischofs Siegmund Weitz in Spiss legte dieser der Gemeinde nahe, für die Instandhaltung des Widums und der Kirche zu sorgen.Ein Vierteljahrhundert später sollten die Wünsche des Weihbischhofs in Erfüllung gehen: 1952 wurden große Teile der Spisser Kirche renoviert, ebenso wurde ein neues Glockengeläut eingebaut.
Die letzte große Kirchenrestaurierung war anlässlich der 200 –Jahrfeier im Jahre 1978, umfassende
Innen- und Außenarbeiten wurden ausgeführt. Neu hinzu kamen der kupferne Weihwasserbehälter sowie der Ambo und der barocke Volkssaltar. Da man auf dem Dachboden der Kirche einen alten Tabernakel entdeckte, überließ man den bisherigen Barocktabernakel als Leihgabe der Wallfahrtskirche in Kaltenbrunn.
Als Gegenleistung erhielt die Spisser Kirche zwei neue Kristall- Luster. Insgesamt kostete die Renovierung der Kirche ca. 2 Millionen Schilling.
Mit der Neueinweihung der Kirche am 24. Oktober 1982 durch H.H. Bischof Dr. Reinhold Stecher fand diese Restaurierung ihren krönenden Abschluss. Pater Viktorin Natter war der letzte Expositurpriester in Spiss. Er wirkte von 1940 bis 1978 in Spiss als der „Bock-und Berghirte im Monddorf", wie er sich selbst oft nannte. In früherer Zeit mag es wohl manchen Bergpfarrer gegeben haben, von dessen Urwüchsigkeit auf der Kanzel heute noch Einzelheiten bekannt sind. Dass der Kapuzinerpater manchmal in seinem energischen Wesen und in seiner schalkhaften Art tief in die „geistliche Kerbe“ schlug, durfte niemand übel nehmen. Sein etwas derber Humor kam auch in den Predigtthemen immer wieder zum Ausdruck:„Raubvögel, Lockvögel und Galgenvögel“, „Priester oder Schuhabstreifer für die Gemeinde?“ Als Pater Viktorin nach 38- jähriger Seelsorgsarbeit 1977 starb, gab es wohl keinen Spisser, der nicht traurig und betroffen war. Mit dem Tod dieses originellen Paters ging eine Epoche kirchlichen Lebens für Spiss zu Ende.Seitdem wird Spiss, ähnlich wie in alten Zeiten, von Nauders mitversorgt.
Die ehemalige Expositur Gstalda
Auf der rechten Seite taleinwärts liegt auf einer schmalen Bergschulter der Weiler Gstalda auf 1712m Seehöhe, der aus drei Bauernhöfen und einer schmucken, kleinen Kirche besteht, die dem heiligen Martin geweiht ist.
Schon im Jahr 1302 wird Gstalda erstmals in einem Rechnungsbuch der Grafen von Tirol urkundlich erwähnt. Nach dem Urbar von 1414 gab es in Gstalda nur einen einzigen Schwaighof. Um 1840 hatte der Weiler mit 40 Einwohnern die höchste Besiedlungszahl. Die Ortschaft bestand aus fünf Bauerngütern und sechs Wohnhäusern. Heute wohnen in den drei Berghöfen nur mehr 9 Personen.
Politisch und kirchlich gehörte Gstalda von jeher nach Spiss. Da die Bewohner von Noggels und Gstalda wegen der weiten Entfernung, wegen Schnee- und Lawinengefahr, Steinschlag- und Murengefahr oft nur unter Lebensgefahr nach Nauders und Spiss kommen konnten, beschlossen sie im Jahr 1834 eine eigene Seelsorgskirche mit Widum in Gstalda zu errichten. (Expositur)
1836 wurde ein Bittschreiben an Kaiser Ferdinand I. bewilligt, mit 400 Gulden aus dem Religionsfonds
konnten die Bewohner mit der Herstellung eines Wohnhauses für den Seelsorger beginnen. Fürstbischof Bernhard Galura von Brixen stiftete den namhaften Betrag von 1000 Gulden, der zum Großteil für den Ankauf kirchlicher Grundstücke verwendet wurde: Frühwiese, Bergwiese, Acker.
Der tüchtige Priester Josef Martin Wolf erwirkte eine Sammelgenehmigung beim Innsbrucker Gubernium und der eifrige Mesner machte sich zur Geldbeschaffung für den Bau der Kirche auf den Weg. An der Spitze der Wohltäter standen das österreichische Kaiserhaus, König Ludwig von Bayern und die Erzherzogin Maria Luise von Parma.
1838 konnte die im einfachen Stil erbaute Kirche zu Ehren des heiligen Martin eingeweiht werden.
1839 hielt der erste Priester in Gstalda seinen Einzug. Von Allerheiligen bis Ende April musste er die
Kinder im hauseigenen Schulzimmer unterrichten und selbst für die Reinigung und Beheizung des Raumes sorgen. Dafür bekam er aus dem Schulfonds 20 Gulden und von den Bewohnern in Noggels und Gstalda unentgeltlich Brennholz.
Im Jahre 1859 fielen Kirche und Widum einer Feuerbrunst zum Opfer, doch die Bewohner bauten beides mit großen Mühen bald wieder auf.
Nur vierzig Jahre war die Expositur Gstalda mit einem Priester besetzt. In dieser kurzen Epoche übten fünf Priester die Seelsorge in Gstalda aus. Das Abwandern des letzten Seelsorgers führte in der Folgezeit auch zur Verwahrlosung von Kirche und Widum.
Schließlich wurde 1891 vom Ordinariat Brixen der Schlussstrich gezogen, da es aus Priestermangel nicht möglich war, die Expositur Gstalda zu besetzen.
Dank einem wirtschaftlichen Aufschwung in den 60er und 70er Jahren in der Gemeinde Spiss, war es möglich, eine umfassende Restaurierung in Angriff zu nehmen, sodass die Martinskirche vor dem sicheren Verfall gerettet wurde.
1988 erstrahlte die Kirche in neuem Glanz und wurde zusammen mit einer neuen Glocke feierlich eingeweiht.
Die Martinskirche ist ein zweijochiger, gewölbter Gebetsraum mit eingezogenem Chor und runder Apsis. Langhaus und Chor haben ein kräftig profiliertes, umlaufendes Gesims. Der Zweisäulenaufbau des Altars wird beherrscht vom Bild des heiligen Martin und flankiert von den beiden Aposteln Petrus und Paulus. Bemerkenswert sind noch der Kruzifixus aus der Mitte des 19 Jahrhunderts, der Beichtstuhl mit aufgebauter Kanzel und die Madonnenstatue mit Kind im Schrein. In den zwei Bankreihen mit je fünf Bänken finden 30 Personen bequem Platz.
Martinskirche in Gstalda